Lesetipps der Woche (KW 27)

In dieser Rubrik erscheinen wöchentlich ausgewählte Artikel aus unabhängigen, meinungsstarken Medien – zusammengestellt von meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter. Als Abgeordneter bleibt im politischen Alltag oft zu wenig Zeit, um sich selbst täglich durch die Vielzahl an relevanten Beiträgen zu arbeiten. Deshalb erhalte ich regelmäßig ein fundiertes Pressebriefing, aus dem hier einige besonders lesenswerte Texte hervorgehoben werden.
Die Auswahl setzt Impulse, regt zum Nachdenken an und eröffnet Perspektiven jenseits des etablierten Meinungskanons – zu Themen, die auch meine Arbeit im Landtag prägen: Frieden, Europa und die gesellschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland.


Hinweis: Die hier empfohlenen Beiträge spiegeln nicht in jedem Fall die Positionen von Nico Rudolph oder seinem Team wider. Sie wurden aufgrund ihrer inhaltlichen Relevanz und Impulsstärke ausgewählt.

NachDenkSeiten: „Der globale Garnisonsstaat: Wie der US-Militarismus in seiner DNA verankert ist“
von Michael Holmes

Zusammenfassung

Michael Holmes rezensiert Peter Harris’ Studie „Why America Can’t Retrench (And How It Might)“ und beschreibt die weltumspannende US-Militärpräsenz als Resultat tief verankerter innenpolitischer Strukturen. Harris führt sechs Expansionswellen seit dem späten 19. Jahrhundert vor Augen und zeigt, wie eine „imperiale Präsidentschaft“, der militärisch-industrielle Komplex und eine interventionistisch geprägte Kultur jede ernsthafte Abrüstungsdebatte blockieren. Über 800 Auslandsstützpunkte, ein Verteidigungsetat von 850 Milliarden Dollar und Wahlkreisabhängigkeiten zementieren den Status quo. Gleichzeitig untergräbt die Vorwärtsstrategie demokratische Kontrolle, bindet Ressourcen und erhöht das Risiko konfrontativer Eskalationen in einer multipolaren Welt. Harris plädiert für Kongressstärkung, ein repräsentativeres Wahlsystem, mehr Transparenz in der Außenpolitik und eine Strategie des „offshore balancing“, bei der regionale Verbündete Verantwortung übernehmen. Er setzt auf Bündnisse breiter Antikriegsströmungen, rät jedoch, die Kritik patriotisch zu rahmen, um Mehrheiten zu gewinnen.

Einordnung

Die Rezension liefert einen dichten Überblick über ein Werk, das das amerikanische Selbstverständnis als „Weltpolizist“ historisch wie institutionell seziert. Besonders aufschlussreich ist Harris’ Nachweis, dass wirtschaftliche Abhängigkeiten ganzer Regionen von Pentagon-Investitionen den Rüstungshaushalt politisch nahezu unantastbar machen – ein Aspekt, der hierzulande in Debatten über transatlantische Sicherheitsgarantien oft übersehen wird. Indem das Buch konkrete Reformpfade skizziert, zeigt es Handlungsspielräume jenseits moralischer Appelle auf und lädt zur nüchternen Bewertung europäischer Autonomiebestrebungen ein. Zugleich bleibt Harris’ Verzicht auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit Folgen der US-Kriege ein Schwachpunkt, der die moralische Dimension militärischer Dominanz unterbelichtet. Dennoch eröffnet der Text wertvolle Perspektiven für alle, die eine friedensorientierte Außen- und Sicherheitspolitik diskutieren und die strukturellen Hürden auf dem Weg dorthin verstehen wollen.


NachDenkSeiten: „Kriegstüchtigkeit neu gedacht“
von Jens Berger

Zusammenfassung

Jens Berger nimmt den vielfach beschworenen Aufruf zur „Kriegstüchtigkeit“ satirisch unter die Lupe. Ausgangspunkt ist der Kontrast zwischen steigenden Rüstungs-ausgaben und dem Niedergang öffentlicher Infrastrukturen – von geschlossenen Schwimmbädern bis zu verfallenden Sportplätzen. Auch Bildung, Gesundheitswesen und Altersvorsorge erscheinen kaum einsatzbereit, wenn es ernst würde. Berger argumentiert, ein realistisches Konzept gesellschaftlicher Resilienz müsse zuerst in diese Bereiche investieren, damit Soldaten überhaupt schwimmen könnten, Krankenhäuser Verwundete versorgen und ein fitter „Volkssturm“ nicht an Altersarmut scheitere. Schließlich kehrt er die Logik um: Wer Kriegstüchtigkeit fordere, müsse ein Land schaffen, das Verteidigung verdient – und falls der Krieg ausbleibe, bliebe immerhin ein lebenswerteres Gemeinwesen.

Einordnung

Eine satirische Zuspitzung mit ernstem Kern: Berger hinterfragt die strukturellen Voraussetzungen des Schlagworts „Kriegstüchtigkeit“ und macht deutlich, dass marode Daseinsvorsorge strategisch gefährlicher sein kann als zu wenige Panzer. Indem er soziale Spaltung und Infrastrukturschwächen als sicherheitspolitische Risiken markiert, lenkt der Text die Debatte von Symbolrhetorik zu materieller Vorsorge. Für Ostdeutschland, wo Schwimmbadschließungen und demografische Alterung besondere Relevanz haben, entsteht so eine provokante Gegenfrage: Ist ein Land, das seine Bürger nicht zusammenhält, überhaupt verteidigungsfähig? Berger eröffnet damit eine Anschlussstelle für friedenspolitische Argumente jenseits klassischer Rüstungskritik und liefert zugleich eine sozialpolitische Agenda, die Sicherheit als gesamt-gesellschaftliche Aufgabe versteht.


Overton: „Großmachtnostalgie und deutsche Atomwaffen“
von Sevim Dagdelen

Zusammenfassung

Sevim Dagdelen porträtiert den Vorstoß von Unionsfraktionschef Jens Spahn, Deutschland solle Zugriff auf eigene Atomwaffen erhalten, und ordnet ihn in eine längere konservative Traditionslinie ein. Auch Kanzler Friedrich Merz rudere zwar offiziell auf die NATO-Teilhabe zurück, verfolge jedoch ein Großmachtprojekt, das ohne nukleare Bewaffnung kaum realisierbar sei. Dagdelen erinnert an den Bundestagsbeschluss von 1958 und die damalige Kampagne „Kampf dem Atomtod“ sowie an das Veto der USA gegen eine deutsche Atombombe. Die Autorin betont, dass Spahns Forderung den Nichtverbreitungsvertrag und den Zwei-plus-Vier-Vertrag bräche, die Deutschland vertraglich an den Verzicht auf nukleare Waffen binden. Großmachtambitionen erforderten zudem Hochrüstung, konfrontative Politik gegenüber Russland und die Bereitschaft, Krieg als Mittel der Politik einzusetzen. Dagdelen sieht in Spahns Initiative einen Testballon: zwei Schritte nach vorn, ein Schritt zurück – mit dem Ziel, langfristig völkerrechtliche Fesseln abzustreifen und Deutschlands Hegemonie in Europa zu etablieren.

Einordnung

Dagdelen durchleuchtet die nukleare Debatte als Symptom einer „Großmachtnostalgie“, die internationale Verträge kurzerhand als überholt erklärt. Besonders aufschlussreich ist ihr Verweis auf das historische Echo von 1958: Damals wie heute dient die angebliche Bedrohung durch Russland als Argument für atomare Aufrüstung. Der Text legt offen, dass deutsche Nuklearambitionen nicht nur sicherheitspolitische Risiken, sondern auch politische Sprengkraft bergen – eine Abkehr vom Verzicht auf Atomwaffen würde Vertrauen in Europas Zentrum massiv erschüttern. Für ostdeutsche Regionen, in denen Erinnerung an Stationierungsproteste und Friedensbewegung bis heute präsent ist, wäre ein solcher Kursbruch kaum vermittelbar. Dagdelen liefert damit eine scharfe Zeitdiagnose, die friedenspolitische Akteure nutzen können, um die Frage nach Souveränität jenseits nuklearer Abschreckung neu zu stellen. Gerade wer auf europäische Sicherheit ohne Eskalationsspirale setzt, findet hier einen soliden Argumentationsanker gegen den Ruf nach eigener Bombe.


Globalbridge: „Gábor Stier aus Ungarn über EU-Sanktionen, Ukraine-Beziehungen und Friedensaussichten“

Zusammenfassung

Im Gespräch erklärt der ungarische Osteuropa-Experte, warum Budapest und Bratislava neue Russland-Sanktionen blockieren. Beide Regierungen hielten die Strafmaßnahmen für wirkungslos und wirtschaftlich selbstschädigend; als Binnenländer könnten sie die teureren Alternativen zu russischem Öl und Gas kaum stemmen. Das angekündigte Veto fungiere zugleich als Verhandlungspfand, um Ausnahmen im Energiesektor zu sichern. Stier verweist auf die De-Industrialisierung der EU – etwa in der deutschen Chemie – als Nebenwirkung von Sanktionen und übereilter Energiewende. Zugleich droht Ungarn, seine inzwischen bedeutenden Stromexporte an die Ukraine zu drosseln, setzt diesen Hebel aber bislang nur rhetorisch ein. Die wechselseitigen Angriffe zwischen Selenskyj und Orbán seien innenpolitisch motiviert; Kiew hoffe langfristig auf einen Regierungswechsel in Budapest. Friedensverhandlungen sieht Stier in weiter Ferne: Weder habe Russland einen klaren Sieg errungen, noch sei die Ukraine kollabiert; entscheidend werde eine künftige Trump-Putin-Dynamik, doch dafür fehlten derzeit die Voraussetzungen.

Einordnung

Ein nüchternes Realpolitik-Porträt, das den Bruch zwischen westlichem Sanktionsdiskurs und mitteleuropäischen Energie-Interessen freilegt. Stier zeichnet nach, wie ökonomische Verwundbarkeiten – steigende Preise, drohende Werksschließungen – den innereuropäischen Konsens erodieren und gleichzeitig neue Machtinstrumente schaffen, etwa Ungarns Stromlieferungen an Kiew. Für ostdeutsche Industrieregionen, die unter ähnlichem Kostendruck stehen, verdeutlicht das Interview, dass Sicherheitspolitik ohne belastbare Versorgungsstrukturen rasch zur Selbstschädigung mutiert. Indem Stier den Friedensfahrplan an harte Frontverläufe und US-Innenpolitik koppelt, rückt er die Debatte von moralischer Empörung auf strategische Bedingungen – eine Perspektive, die friedenspolitische Argumente erdet und zugleich die Fragilität europäischer Geschlossenheit sichtbar macht.


NachDenkSeiten: „Chipabhängig und überwacht: Europas gefährliches Dilemma“
von Günther Burbach

Zusammenfassung

Günther Burbach beschreibt Europas digitale Infrastruktur als Außenposten US-amerikanischer Überwachung: Von Outlook bis Azure wandern Behörden- und Unternehmensdaten auf Cloud-Server, die unter dem CLOUD Act für NSA & FBI zugänglich sind. Statt die eigene Schlüsselposition bei EUV-Belichtungsmaschinen (ASML, Zeiss SMT, EVG) zu nutzen, bezuschusst Brüssel Milliardenprojekte von Intel oder TSMC – ohne strategische Mitsprache. Europas Chipproduktion ist von 40 % (1990er) auf 9 % gefallen; das Ziel von 20 % bis 2030 hält die Branche für unrealistisch. Ohne eigene Chipentwürfe bleibe jede Fabrik eine hochmoderne Druckerei ohne Texte: Know-how, Patente und Designs liegen in den USA und Asien. Das Magdeburger Intel-Werk und die geplante TSMC-Fabrik in Dresden wirkten so eher wie verlängerte Werkbänke, finanziert von europäischen Steuergeldern. Politische Abhängigkeit zeige sich auch darin, dass Berlin nach Trumps Launen zittere, statt eine souveräne Digitalstrategie zu formulieren. Burbach fordert ein „Airbus der Mikroprozessoren“, Investitionen in RISC-V-Architekturen, staatliche Open-Source-IT und strikte Datensouveränität. Ohne rasche Kurskorrektur drohe Europa technologisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch zum Erfüllungsgehilfen fremder Interessen zu werden.

Einordnung

Burbach seziert Europas technologische Selbstentmündigung und zeigt, dass digitale Autonomie mehr ist als schnelles WLAN: Ohne eigene Chips, Designs und Server legt sich der Kontinent an die sicherheitspolitische Leine Washingtons. Besonders brisant ist der Verweis auf kommunale IT – auch ostdeutsche Verwaltungen speichern Sozial- und Gesundheitsdaten faktisch in US-Rechenzentren. Der Text verbindet Industriestrategie mit Grundrechtsschutz und rückt damit Digitale Souveränität in den Kern friedenspolitischer Debatten: Wer Daten und Silizium aus der Hand gibt, kann schwerlich eine unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik beanspruchen. Burbachs Vorschlag eines „Airbus für Prozessoren“ liefert einen konkreten Anknüpfungspunkt für jene, die Autonomie nicht als anti-amerikanische Attitüde, sondern als Voraussetzung kooperativer Partnerschaft begreifen. Eine scharfkantige Analyse mit klarem Impuls, die das Mantra „mehr Rüstung, weniger Abhängigkeit“ auf den Kopf stellt und zeigt, dass Souveränität auf dem Motherboard beginnt.


NachDenkSeiten: „Letzte Hoffnung UN-Charta – Ein Appell für Frieden und Neutralität“
von Éva Péli

Zusammenfassung

Éva Péli berichtet von einer Berliner Veranstaltung zum 80. Jubiläum der UN-Charta, in der Ex-UN-Diplomat Michael von der Schulenburg, die BSW-Außenpolitikerin Sevim Dagdelen und Friedensaktivist Reiner Braun vor der gegenwärtigen Aufrüstungsspirale warnen. Von der Schulenburg erinnert an den Ursprung der Charta als radikale Antwort auf zwei Weltkriege und hebt ihr Gebot hervor, Konflikte ausschließlich diplomatisch zu lösen. Er kritisiert, dass der Westen sich im Ukraine-Konflikt eher auf Waffenlieferungen als auf Verhandlungen stützt und Rüstungskontrollabkommen aufgegeben hat. Dagdelen verknüpft die NATO-Forderung nach fünf Prozent BIP für Verteidigung mit sozialstaatlichem Kahlschlag und bezeichnet die Allianz als „neokoloniale“ Kraft, die globale Hegemonie sichern wolle. Beide warnen vor atomarer Eskalation und plädieren für souveräne Neutralität statt Bündnisdogmen. Als Ausweg skizzieren sie eine „demokratische Erneuerungsbewegung“, die die Prinzipien der UN-Charta – Gewaltverbot, Gleichberechtigung, friedliche Streitbeilegung – in den Mittelpunkt rückt und Aufrüstung durch soziale Investitionen ersetzt.

Einordnung

Der Bericht führt eindrücklich vor Augen, dass friedenspolitische Kritik längst nicht nur an Rüstungszahlen, sondern an normativen Grundsätzen ansetzt: Wer Artikel 2 der UN-Charta ernst nimmt, kann Waffenlieferungen schwerlich als Friedensbeitrag rechtfertigen. Zugleich zeigt Péli, wie NATO-Beschlüsse über Militäretats direkt auf kommunale Haushalte durchschlagen – ein Argument, das gerade in strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands Resonanz finden dürfte. Indem von der Schulenburg die Charta als „Sternstunde der Menschheit“ rahmt, erhält die Debatte einen zivilisatorischen Maßstab jenseits tagespolitischer Schlagabtausche. Dagdelens Verweis auf das „Sich-zugrunde-Rüsten“ der NATO schärft den Blick dafür, dass Sicherheitslogik ohne soziale Rückbindung ins Leere läuft. Der Beitrag verbindet somit völkerrechtliche Prinzipien mit sozial- und demokratiepolitischen Fragen und liefert friedensorientierten Stimmen ein narratives Dach: Neutralität als aktive Souveränität, getragen von Diplomatie statt Drohkulisse.

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