Rede im Landtag: 35 Jahre Wiedervereinigung – Zeit für eine ehrliche Bilanz

Am 11. September 2025 habe ich in der Aktuellen Stunde des Sächsischen Landtags zum Antrag unserer Fraktion „1989–2025: Wiedervereinigung ohne Einheit – Zweite Wende statt Zeitenwende!“ gesprochen. In meiner Rede habe ich deutlich gemacht, dass die Geschichte der Wiedervereinigung auch von Brüchen, Enttäuschungen und bis heute nachwirkenden Ungerechtigkeiten geprägt ist. Viele Ostdeutsche fühlen sich in der offiziellen Erinnerungskultur nicht wieder und erwarten zu Recht einen ehrlicheren, offeneren Umgang mit ihrer Erfahrung. Es ist Zeit, den Blick nicht nur auf die Schatten, sondern auch auf die bewahrenswerten Seiten der DDR-Gesellschaft zu richten – und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Hier dokumentiere ich meine Rede im Wortlaut:

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin im Sommer 1989 geboren, war also selbst kurzzeitig, wenn auch unmündiger, Bürger der DDR. Aus Familienerzählungen weiß ich, dass meine Eltern im Herbst 1989 an den Protestzügen in Limbach-Oberfrohna teilnahmen, während mein Großvater aus dem Fenster schaute und sagte: „Dort demonstrieren die Arbeitslosen von morgen.“ Und er hatte nicht ganz Unrecht.

Euphorie und Ernüchterung standen zeitlich nur Monate hintereinander. Pro- und Kontra-Wendeverlauf in Familien oft nebeneinander. Meine Familie, beide Elternteile Facharbeiter, mussten nach der Wende den Beruf wechseln und nach Westdeutschland ziehen. Das hat dort nicht geklappt. Es hieß bald, es geht zurück. Für meinen Vater hieß das dann, Rückkehr in seinen alten Beruf aus DDR-Zeiten.

Aber weder mit der Anerkennung, die er als Facharbeiter in der DDR hatte, eine sogenannte „arbeiterliche Gesellschaft“, wie es der Soziologe Wolfgang Engler beschreibt, noch mit der Bezahlung, die er als Schwerarbeiter in der DDR hatte. Er war einer der Millionen von Ostdeutschen, die jahrelang für Niedriglohn gearbeitet, oft auch geschuftet haben. Und ich frage mich, für was eigentlich? Für eine Rente, die irgendwo knapp unter der Grundsicherungsgrenze gelegen hätte. Körperlich seit einigen Jahren stark geschwächt, kämpfte er sieben Jahre lang, vertreten von der Gewerkschaft, für eine Erwerbsunfähigkeitsrente.

Er hatte keinen Stress vom Jobcenter, weil sie wussten, dass er nicht mehr arbeiten kann. Umso schlimmer der Widerspruch zum Verhalten der Rentenbehörde. Er ist einer der zahlreichen Fälle, der starb, bevor ihm diese Rente zuteilwerden konnte. Die entsprechende Rentenkasse zieht Verfahren in die Länge und geht mehrfach nach Urteilen in Widerspruch, wie aus entsprechenden Kreisen zu hören ist. Meines Erachtens auch ein Aspekt von Unrecht.

Mein Vater war ein Wendeverlierer, obwohl er für die Wende auf die Straße gegangen ist. Diese Menschen und ihre Schicksale spielen im Vereinigten Deutschland weder in der Politik noch in den Medien noch in der Schule eine Rolle. Ich denke, es ist Zeit, den Diskurs offener und ehrlicher zu führen.

Anfang der 90er-Jahre war alles, was mit der DDR zu tun hatte, egal ob gut oder schlecht, in der politisch-medialen Sphäre verpönt. Mittlerweile sind 35 Jahre ins Land gegangen und die Wut auf vorhandenes Unrecht sollte nicht mehr den Blick auf eigentlich Bewahrenswertes bestimmen.

Hier nur eine Auswahl:

Etwa das Konzept des polytechnischen Unterrichts an den Schulen kombiniert mit längerem gemeinsamen Lernen. Natürlich ohne Fahnenappell und Staatsbürgerkunde. Die Finnen und Schweden haben es sich bereits abgeschaut und fahren gut damit, wie Pisa bezeugt. Der westdeutsche Paderborner Mathematikprofessor Bernhard Grötz empfiehlt seinen Mathestudenten DDR-Lehrbücher, weil er meint, dass diese aus pädagogischer Sicht die höchste Qualität aufweisen würden.

Oder die Produktion von Gebrauchsgegenständen, die aufgrund begrenzter Ressourcen und Finanzen lange halten mussten. So mancher schicke Orange-RG28-Mixer ist noch heute in Betrieb. Vor einigen Monaten gab es einen MDR-Bericht über einen Eiskaffeebetreiber, der noch heute Softeis nach DDR-Rezept herstellt, mit Maschinen aus DDR-Produktion. Er sagt, sie wären die besten, die es gibt.

Oder in Schwebnitz in der Lausitz hergestelltes Superfestglas, das die 15-fache Lebensdauer normalen Glases besitzt. Gelebte Nachhaltigkeit, aber in der Marktwirtschaft nicht gebraucht, wie einer der Erfinder sagt. Ich zitiere, bei Coca-Cola zum Beispiel hieß es: „Warum sollten wir ein Glas nehmen, das nicht kaputt geht? Wir verdienen Geld mit unseren Gläsern.“ Die Händler sagten verständlicherweise: „Wer sägt schon den Ast ab, auf dem er sitzt?“ Der Kollege Jan-Peter Warnke aus dem EU-Parlament, Professor für Medizin, sagte neulich auf einer Veranstaltung in Chemnitz: „Die Breitenmedizin zu DDR-Zeiten war besser als heute.“ Man wird ihm keine DDR-Nostalgie vorwerfen können, er flüchtete 1987 nach Westdeutschland.

Warum sollten wir nach 35 Jahren nicht anfangen, einen offenen und objektiven Umgang mit der Geschichte der DDR zu finden? Viele Menschen, die damals gelebt haben, finden sich in der offiziellen Deutung nicht wieder und geben die Grundskepsis oft auch indirekt an ihre Kinder und Enkel weiter. Eine erinnerungspolitische Wende weg von der Dämonisierung hin zu einer unaufgeregten, sachlich-objektiven Betrachtung würde gesellschaftliche Spannung abbauen können, Initiativen für neue Lösungsansätze bieten und die Bürger ein Stück weit das Vertrauen in die Diskursfähigkeit dieser Gesellschaft zurückerlangen lassen.

Vielen Dank.

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